Wunderkammern, das Wikipedia der Neugierde

Einhornhörner, Meerjungfrauenskelette, präparierte Tiere, konservierte Pflanzen, Uhren, wissenschaftliche Instrumente, Himmelsgloben. Das waren die Inhalte der Wunderkammern, die in den königlichen und aristokratischen Häusern Europas, in der Renaissance und im Barock in Mode kamen. Es war eine Zeit, in der der Mensch danach strebte, alles zu verstehen. Denn die Ergebnisse weltweiter Expeditionen und wissenschaftlicher Experimente macht dies möglich.

Heute verwenden wir den Begriff, um jede faszinierende oder eigenwillige Ansammlung von Objekten zu beschreiben, die in Kisten oder hinter verschlossenen Türen versteckt sind. Die ursprüngliche Definition der Wunderkammer in der Renaissance war spezifischer. Sie bezeichnete eine vielfältige und sorgfältig aufgebaute Sammlung von Kunstgegenständen, natürlichen und von Menschenhand geschaffenen Kuriositäten. Sie verkörperten den Forschungs- und Wissensdrang der Epoche und legten den Grundstein für die Museen, wie wir sie heute kennen.

Wunderkammern, die Kabinette der Neugierde
Portrait von Samuel Quiccheberg

Das Wort “Wunderkammer” taucht erstmals Mitte des 15. Jahrhunderts auf. Samuel Van Quiccheberg verfasste 1565 den ersten Leitfaden zum Sammeln, Bewahren und Ausstellen, der auf seinen Erfahrungen als wissenschaftlicher und künstlerischer Berater des Herzogs von Bayern basierte, dessen Wunderkammer er mit aufgebaut hatte.

Laut Quiccheberg fielen ihre Inhalte unter verschiedene Kategorien wie Artificialia, von Menschenhand geschaffene Antiquitäten und Kunstwerke; Naturalia, Pflanzen, Tiere und andere Gegenstände aus der Natur; Scientifica, wissenschaftliche Instrumente; Exotica, Objekte aus fernen Ländern; und Mirabilia, ein Sammelbegriff für andere Wunder, die Staunen hervorrufen.

Aus vielen Ecken der Welt zusammengetragen, repräsentierten diese Objekte einen weiten Bereich von Kunst, Wissenschaft und Mystik — was Quiccheberg ein “Theater der Welt” nannte. In den Worten des zeitgenössischen Gelehrten Patrick Mauriès versuchte die Wunderkammer, “alles Wissen, den ganzen Kosmos auf Regalen angeordnet” zu erfassen. Manche waren klein wie ein Kabinett, andere so groß wie ein Labyrinth von Räumen.

Wunderkammern, das Wikipedia der Neugierde
Illustration in History of the University of Dublin (1819)

Während das Aufspüren dieser Objekten Teil der menschlichen Evolution ist, blühte der Prozess des Sammelns während der Renaissance auf. Die Erfindung des Kompasses im 13. Jahrhundert und die Verbesserungen der Kartografie lösten in den 1500er und 1600er-Jahren eine explosive Periode der Entdeckung und des globalen Handels aus. In diesem “Zeitalter der Entdeckungen” schickten die Herrscher in Italien, Spanien und England Entdecker auf die Suche nach dem tieferen Wissen über die Welt.

Zur gleichen Zeit wurde die Wissenschaft zu einer definierten Disziplin, die versuchte, große Fragen über die Erde, den Himmel und den menschlichen Körper zu beantworten. Während die katholische Kirche versuchte, die wissenschaftliche Forschung zu verbieten, wurden Bände, die medizinische Entdeckungen und die Struktur des Kosmos detailliert darstellten, in Scharen veröffentlicht. Auch Künstler wie Leonardo da Vinci verzichteten auf religiöse Themen und stellten stattdessen die natürliche Welt und die menschliche Anatomie korrekt dar.

Wunderkammern, das Wikipedia der Neugierde
Détail d’un “cabinet de curiosités” (ancienne collection Lorne) au Musée de Sens

Die Wunderkammer entstand in dieser Periode des Reisens und der wissenschaftlichen und künstlerischen Entwicklung als Werkzeug, um diesen wachsenden Wissensschatz bequem von zu Hause aus zu erkunden. Wunderkammern fungierten als geordneter Mikrokosmos der weiten Welt sowie als Plattform, um ihre Sehnsucht nach wundersamen Erfahrungen zu befriedigen.

Die meisten Wunderkammern waren jedoch nicht rein wissenschaftlich gedacht — sie waren auch Orte, um persönliche Vorlieben zu erkunden, der Mystik zu frönen und Macht zu demonstrieren. Neben Objekten, die direkt aus der Natur entnommen wurden, enthielten typische Wunderkammern Skulpturen, Gemälde, Bücher, Münzen, Medaillons, Edelsteine, Karten und wissenschaftliche Instrumente.

Sie beherbergten auch Gegenstände, die Mystik und Okkultismus repräsentierten: Steine, denen magische Kräfte nachgesagt wurden; Hörner, die angeblich zu Einhörnern gehörten; verzauberte Kreaturen, die Alraunen und Meerjungfrauen sein sollten. “Jedes Objekt bot die Möglichkeit, eine Geschichte über ein episches Abenteuer zu erzählen oder noch häufiger eine zu fabrizieren”, schrieb der Kunsthistoriker Giovanni Aloi.

Wunderkammern, das Wikipedia der Neugierde
Jars of celebrity poo at the Viktor Wynd Museum

Die Flexibilität der Wunderkammer, zwischen Natur und Kunst, zwischen dem realen und dem imaginären Hin und Her zu schalten. Sie erlaubte es Sammlern, ihre eigenen Versionen der Welt zu präsentieren, manchmal zu ihrem politischen Vorteil.

Basierend auf dem Wunsch, Wissen nutzbar zu machen und zu konzentrieren, beeinflussten diese Wunderkammern die Art und Weise, wie private und öffentliche Sammlungen in Zukunft organisiert werden sollten. Doch während die Wunderkammer den Weg für Institutionen wie dem British Museum in London und dem Metropolitan Museum in New York ebnete, betonten sie auch eine kurzsichtige und koloniale Perspektive.